Der Hayabusa Effekt (Teil 3/3)

Autor: Ricky Wilhelmson
Lesezeit: 5 Minuten

— Der Analyst
Der Analyst lehnte sich zurück, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und machte eine halbe Drehung auf seinem Bürostuhl, weg vom Monitor. Keiner seiner drei Kollegen am Gemeinschafts-Arbeitstisch, alle mit klobigen Kopfhörern über den Ohren, nahm davon Notiz. Die Neonbeleuchtung sorgte bei ihm für Kopfschmerzen. Die schallgedämpften Böden und Wände machten aus dem unterirdischen Arbeitsraum ein stilles, hell beleuchtetes Grab. Über seine eigenen Kopfhörer lief seit Stunden nur Vogelzwitschern und Wasserplätschern aus einer Endlosschleife mit Ambient-Musik. Er hatte sich durch Berichte der australischen Gesundheitsbehörden gearbeitet, ohne dabei auf wirklich Neues zu stoßen. Vor etwas über einem Jahr waren die ungewöhnlichen Zahlen in den Statistiken zum ersten mal aufgefallen. So wie es der Geheimdienst-Koordinator, sein Chef, im Treffen mit dem Staatsoberhaupt vorgestern gesagt hatte. Sehr hohe Anzahl an Zwillingsgeburten und extreme Zunahme der Schwangerschaften bei Teenagern. Zur gleichen Zeit hatten die Berichte der Polizeibehörden ganz klar einen Anstieg bei aggressivem Verhalten festgestellt. Bei Frauen und Männern gleichzeitig. Bei den Frauen etwas mehr. Der Trend ging unbeirrt nach oben. Nicht, wie üblich, nach Einkommensschichten getrennt, sondern überall gleich. Noch immer wusste niemand wieso. Der Analyst überlegt, wie er weiter vorgehen könnte. Der ungefähre Zeitpunkt, ab dem sich die Veränderung im Verhalten seiner Landsleute gezeigt hatte, stand fest. Januar 2021. Er kam auf einen verrückte Idee. Konnte man vielleicht auch einen Ort angeben, an dem es angefangen hatte? Mit einer Drehung war er zurück am Monitor, legte seine Hände auf Tastatur und Maus und ging ins Geoinformationssystem der Behörde. Dort ließ er sich die auffälligen Berichte aller Gesundheitsämter, als Punkte auf der Landkarte anzeigen. Für die neuesten Berichte färbte er die Punkte grün, für die ältesten rot ein. Das Gleiche machte er mit den Polizeistatistiken, die einen Anstieg bei häuslicher Gewalt und aggressivem Verhalten bei Bagatelldelikten zeigten. Nach dem selben Schema färbte er die Punkte zu den ältesten Berichten rot und zu den neuesten grün. Und zoomte aus der so entstandene Karte heraus, zu einer Gesamtansicht des australischen Kontinents. Der Analyst starrte fünf Sekunden lang, ohne zu blinzeln auf den Monitor. Nur das Kopfhörerkabel unterbrach ruckartig seinen anschließenden Sprint ins Büro seines Chefs.

„Okay, und welche Berichte genau haben sie hier dargestellt?“ Der Koordinator zeigte auf eine kleine, dichte Wolke aus roten Punkten im Süden Australiens. Sie verfärbte sich langsam grün, je weiter sie sich über den Kontinent ausdehnte. Die Stadt Coober Pedy lag in ihrer Mitte.

„Nur die Auffälligen Berichte. Aus den Datenbanken von Gesundheitsamt und Polizei“, sagte der Analyst.

Der Geheimdienst-Koordinator nickte.

„Und das Zentrum, das Epizentrum, liegt ausgerechnet in Woomera? In Coober Pedy?“

Der Analyst zuckte mit den Achseln. „Das sagen die Daten.“

„Haben sie sich auch die Detailberichte der Polizeistation angesehen oder nur die wöchentlichen Zusammenfassungen?“

„Dazu fehlt mir die Berechtigung.“

Der Koordinator tippte ein Passwort ein, legte seinen Zeigefinger auf einen Scanner in der Tastatur, sah in seine Webcam zur Gesichtsidentifizierung und klickte ein paar mal mit der Maus.

„Jetzt haben sie sie. Ich will, dass sie sich alle Polizeiberichte von Coober Pedy im letzten Quartal 2020 bis Februar 2021 ansehen. Und zwar jetzt gleich. Wenn es zu viele sind, sagen sie mir Bescheid, dann kriegen sie Hilfe.“

„In Ordnung. Danke.“, erwiderte der Analyst und verließ, ohne die üblichen Floskeln, das Chefbüro. Der Kopfhörer hing immer noch um seinen Hals.

Zurück im Gruppenraum würdigten die Kollegen ihn keines Blickes, als er sich hinsetzte und mit dem Lesen begann.

George Jacob McPhillister, geboren 1976 in Perth, Pächter einer Opal-Mine im Süden von Coober Pedy, war am 27. Dezember 2020 auf seinem Grab-Bagger mit 20 km/h, drei Stunden lang zu einer Tankstelle gefahren, hatte sich einen Sechserpack Flosters-Bier gekauft, sich eine Zigarette angezündet und war dann, mit dem Bagger und eingeschalteter Bohrvorrichtung direkt in eine Zapfsäule für Super-Benzin gefahren. Die Explosion tötete ihn, den Tankwart, und zerstörte im Umkreis von 600 Metern alle Fenster.

Lisa Sophie Voychnik, geboren 1989 in Adelaide, Postdoktorandin für Molekularbiologie an der Universität von Perth, fand man am 29. Dezember mit aufgeschnittenen Pulsadern in der Toilette einer Bar in Coober Pedy.

Ihr Lebensgefährte Michael James Moorlet, geboren 1987 in Darwin, Geochemiker, ebenfalls von der Universität Perth, erhängte sich drei Tage später auf dem Gelände der Luftwaffenbasis.

Die drei Tode fielen aus dem Rahmen, weil in Coober Pedy, selbst im Dezember, der Durchschnitt für nicht natürliches Ableben bei gesunden Personen unter 65 Jahren sehr niedrig war, und bei einem Todesfall alle sieben Monate lag. In der ersten Woche des Januar 2021 kam es in ganz Coober Pedy, einer Kleinstadt mit 1600 Einwohnern, zu insgesamt 114 Fällen von schwerer häuslicher Gewalt. Wider Erwarten gingen die Anzeigen bei der Polizei von den Männern ein, und nicht wie sonst, von den Frauen. Ebenfalls in dieser Woche verzeichnete das einzige Krankenhaus der Gegend einen Rekord an Geburten und Fehlgeburten, da sämtliche Mütter jenseits des 7. Monats gleichzeitig niederkamen, die meisten mit Zwillingen, die man in den Voruntersuchungen angeblich übersehen hatte. In der zweiten Woche des Januar 2021 machten sich die Früh-, Fehl- und Zwillingsgeburten bereits im gesamten australischen Süden bemerkbar. Genauso wie die erhöhte Gewalt- und Risikobereitschaft. Vermehrt Todesfälle oder Selbstmorde gab es dagegen keine mehr. Der Analyst war sich nicht sicher, ob er diese Fakten seinem Chef präsentieren konnte, noch immer, ohne eine gute Erklärung zu haben.

— Woomera
Kurz vor Mittag, am 6. Dezember 2020, legte George eine Pause beim Graben ein, und kam, mit einer dicken Staubschicht bedeckt, aus dem Eingang seines jüngsten Tunnels. Potato saß da und wartete auf ihn. Denn er hatte, wie immer, Hunger.

„Ach, wieder bei mir? Was ist denn mit deinen Freunden von der Militärbasis, hm? Füttern dich wohl nicht mehr, was?“

Potato verstand nicht, setzte sich hin, fing an sich mit dem linken Hinterbein am Hals zu kratzen und beobachtete George dabei, wie er den Gas-Grill aufklappte und ein dickes Stück rohes Fleisch aus einer Kühlbox nahm. Der laute Knall war für beide eine Überraschung. Potato und George sahen in die selbe Richtung. In zweihundert Metern Entfernung spritzte eine Erdfontäne in den Himmel, gefolgt von einer Wolke aus Staub.

„Was zum …“ sagte George zu sich selbst, holte einen Verbandskasten aus seinem Wohnwagen, weil er der Meinung war, ein Kleinflugzeug wäre auf seinem Gebiet abgestürzt, und ging dann mit hastigen Schritten der Staubwolke entgegen. Potato folgte ihm.

Die japanischen und auch die australischen Nachrichten berichteten am 6. Dezember 2020 von einer erfolgreich geglückten Landung der Hayabusa 2 Kapsel im australischen Woomera. Die veröffentlichten Videos zeigten allerdings nur den kleinen Krater, den die Kapsel im Boden hinterlassen hatte. Die eigentliche Bergung sah man nicht. Man sah und las auch nicht, dass George und Potato die ersten vor Ort gewesen waren. Fast eine halbe Stunde vor dem Bergungsteam. George hatte die Kapsel angefasst, den Staub abgewischt und gehofft, ein Identifizierungsmerkmal zu Finden. Potato ging nicht näher als einen Meter an das schwarz verkohlte Ding heran, das wie das Miniaturmodell einer fliegenden Untertasse aus einem UFO-Film der Fünfzigerjahre aussah. Nach etwa 20 Minuten liefen Beide zu Georges Wohnwagen zurück und George warf endlich den Grill an. Von dort hörten sie die Hubschrauber der australischen Luftwaffe an der Absturzstelle landen und sahen, eine Stunde später, wie sie mit der Kapsel im Schlepptau wieder verschwanden. Nach dem Essen hatte George sehr schlechte Laune und gab Potato nichts vom Straußenfleisch ab. Potato, immer noch hungrig und in der Hoffnung sich wieder von der netten Frau auf der Militärbasis streicheln und füttern zu lassen, lief dem Geknatter der Hubschrauber hinterher, und freute sich auf ein Stück Dörrfleisch.

—- Der Analyst
Die Polizeiberichte aus Woomera waren nicht sehr aufschlussreich gewesen. Die drei Todesfälle im Dezember, eine Anomalie, ließen sich durch nichts Konkretes verbinden. Außer, dass sie merkwürdig anmutende Selbstmorde waren. Der Analyst schloss die Datenbank mit den Polizeiberichten und öffnete die der Gesundheitsämter des ganzen Landes. Selbst für den kurzen Zeitraum von ein paar Monaten waren es hunderttausende Einzelberichte. Hauptsächlich individuelle Patientenakten. Ohne medizinischen Sachverstand war hier nichts zu machen. Dann fand er einen Bereich, in dem jedes der regionalen Krankenhäuser nur die Monatsberichte ablegte. Hier waren auch medizinische Sonderfälle verständlich zusammengefasst. Er fing in Woomera an zu lesen, und weil ihm nichts auffiel, machte er mit den Nachbarregionen weiter. Sich an die Polizeiberichte mit der zunehmenden Gewaltbereitschaft erinnernd, las er schon den dritten Bericht mit Andeutungen auf eine ungewöhnlich hohe Anzahl an Demenz-Fällen. Ungewöhnlich, weil nicht durch hohes Alter oder durch chronischen Alkoholismus erklärbar. Zunehmend bei Menschen aller Einkommensschichten im mittleren Alter. Einer der Berichte gab als Referenz die Creutzfeldt-Jakobsche Krankheit an, die durch Anlagerung von Protein-Plaques im menschlichen Gehirn zu einer Degeneration der Nervenzellen führte. In einer Variante, bekannt als BSE, trat sie auch bei Rindern und Schafen auf. Simpel ausgedrückt, dachte der Analyst, zerfraß es den befallenen einfach das Gehirn. Und sowohl bei Tieren als auch bei Menschen machte sich das in der Endphase durch Gedächnisverlust, und, der Analyst staunte, durch Aggressivität bemerkbar. Könnte das die Erklärung sein? Eine neue Welle dieser Krankheit die, warum auch immer, ausgerechnet in Woomera ihren Ursprung hatte?

— Die Sonde
Die Heizung, die die Bordsysteme der Sonde vor dem Einfrieren schützten, erwärmte auch die B. subtilis Sporen auf deren Außenhaut. Genug, um minimale Stoffwechselaktivität zu erhalten und dem selbstreplizierenden Molekül die Vervielfältigung zu ermöglichen. Doch erst nach der Landung auf der Erde erwachten die B. subtilis Sporen wieder. Sie begannen sich in ihrer heimischen Umgebung zu vermehren, und das Molekül in ihnen fing an, die bakteriellen Mechanismen für die Herstellung von Proteinen zu beeinflussen. Das Resultat war ein, nach irdischen Maßstäben, unauffälliges Protein, aber völlig neuer Bauart. Denn es existierte in zwei möglichen Varianten. Die Eine, harmlos und inaktiv. Die Andere, reaktionsfreudig und mobil, konnte die harmlose Variante in Proteine der reaktiven Variante umwandeln. Die Ähnlichkeit dieses Proteins zu den Prionen-Proteinen der Creutzfeldt-Jakobschen Krankeit, war alles andere als zufällig. Das mochte damit zusammenhängen, dass Beide vom gleichen, 4,5 Milliarden Jahre alten molekularen Vorgänger abstammten.