Der Hayabusa Effekt (Teil 2/3)

Autor: Ricky Wilhelmson
Lesezeit: 5 Minuten

— Die Sonde
Leben steckte keines im Kern des Asteroiden. Auch nicht in seinen Randschichten aus Eis und kosmischem Staub. Es gab große Mengen an Molekülen, die Chemiker als organisch bezeichnet hätten. Das hieß aber nicht, dass sie von Lebewesen stammten. Auch auf Ryugu stammten sie nicht von Lebewesen. Doch sie vermehrten sich trotzdem. Durch einen Vorgang, den man Selbstreplikation nannte, waren zwei dieser organischen Moleküle dazu in der Lage, aus primitiven Vorgängersubstanzen ein identisches drittes herzustellen. Zuletzt, vor fünfzehn Millionen Jahren, war dieser Prozess angestoßen worden, weil der Asteroidenmantel durch den Aufprall eines kleinen, toten Gesteinsbrocken für kurze Zeit im Ultraschallbereich vibrierte. Genau so, wie vor 48 Stunden, als das kupferne Explosivgeschoss der Hayabusa2 Sonde der JAXA ein Loch in den Mantel des Asteroiden Ryugu stieß.

„Wir bekommen Daten. Es sieht gut aus. Das Saugen scheint zu funktionieren“, sagte der Kommunikations-Ingenieur im Gruppenchat der JAXA.
Die Annäherung der Sonde an den Asteroidenkrater war auf den letzten Metern besonders kritisch. Der „Saugrüssel“ zur Aufnahme des Materials ließ sich zwar zusammenschieben, aber weil die Sonde in einem leicht schrägen Winkel auf den Asteroid treffen konnte, wollte man das vermeiden. Die autonome Steuerung der Sonde bremste rechtzeitig ab, schaltete die Sauganlage ein, und füllte eine der drei sterilen Materialkammern mit allem, was sie kriegen konnte. Vierzig Minuten später ging der JAXA Missionschef erleichtert vom Missionsraum in den Pausenraum, zog sich einen ungesüßten grünen Tee aus dem Automaten und begann ihn, durch einen kurzen Papp-Strohhalm, auszusaugen.

— Woomera
Potato schnupperte an den Straußenfleisch-Resten von letzter Woche, hob den Kopf und sah George an. Dann senkte er den Kopf wieder und trottete zurück in den Schatten.

„Wirst wohl doch zu Feinschmecker, was?“, rief George hinter ihm her. Potato hatte er nicht vom Vorbesitzer der Mine gekauft. Er war ihm zugelaufen. Anfänglich gab er sich noch mit allem zufrieden, was George ihm an Küchenresten hinlegte. Aber seit einer Weile fraß er nicht mehr alles. Vielleicht, dachte George, krieg er jetzt was von den Leuten der Militärbasis. Die lag vier Kilometer im Nordwesten. Wenn man in gerader Linie lief. Auf der Straße war es weiter.

„Lass dich nicht vom Militärkoch bestechen, mein Freund. Das bereust du noch. Die werfen dich vielleicht bald selbst in die Suppe.“

Potato verstand die Anspielung nicht, was nicht an einem Mangel an Intelligenz lag. Er hatte einfach schon lange aufgehört, aus dem tieftönigen Gebrumme der Menschen Muster heraushören zu wollen. Sie fütterten ihn, wenn er ihre Spielchen mitspielte und sich in ihrer Nähe aufhielt. Das reichte.

— Das Staatsoberhaupt
Die gepanzerte, aber sonst gänzlich unauffällige Limousine, bahnte sich einen Weg durch das Gewirr der Vorstadtstraßen, zurück zum Regierungssitz im Zentrum der Hauptstadt. Die persönliche Assistentin des Staatsoberhauptes saß auf der anderen Seite der Rückbank, und tippte konzentriert auf einem Notebook. Das Staatsoberhaupt sah aus den getönten Fensterscheiben auf den Verkehr.

„Wir haben den nächsten Termin in 45 Minuten, bei …“, setzte die Assistentin an.

„Ich weiß, ich weiß“, erwiderte das Staatsoberhaupt und verdrehte die Augen, so dass es nicht bemerkt wurde. „Ich muss mal eine halbe Stunde lang ungestört nachdenken.“

Die Assistentin nickte, ohne aufzusehen und tippte stumm weiter.

Die Situation war ernst. Außer dem Geheimdienst-Koordinator selbst, gab es nur noch den Innenminister im kleinen Zirkel der in alle Details Eingeweihten. Vor zwei Monaten waren diskrete Anfragen an die befreundeten Staaten in der Nachbarschaft geschickt worden. Ob sich auch dort die merkwürdigen Abweichungen in den Statistiken zeigte, hatte man wissen wollen. Und sie zeigten sich. Bei Allen. Die Antworten waren alle bürokratisch verschwurbelte Varianten von „Ach, bei euch auch?“ gewesen. In den Nachrichten landete glücklicherweise nichts. Bisher. Die wenigen Experten, die sich Statistiken ansahen und sie verstanden, und die noch viel kleinere Teilmenge derer, die ihrer Verwunderung über die „Anomalien“ in Sozialen Medien Ausdruck verlieh, wurde durch gezielt platzierte Gegendarstellungen entschärft. Oder durch Übertreibungen zu den Alu-Hut tragenden Verschwörungstheoretikern abgeschoben. Wenn sich ein Ende der Situation abgezeichnet hätte, dann hätte man einfach so weiter machen können, bis es vorbei war. Sicher, es wäre nie klar gewesen, warum das alles passierte und was genau passierte, aber, wen kümmerte das schon? Ein Staatsoberhaupt hatte für Stabilität zu sorgen, dachte das Staatsoberhaupt. Wie, das war fast egal.

— Woomera
Vier Wochen vor der Landung der Hayabusa 2 Kapsel mit Asteroidenmaterial, war die eine Hälfte des Missionsteams ins australische Woomera gereist. Dort sollte die Kapsel kontrolliert abstürzen. Auf einem, mehr als 120.000 Quadratkilometer großen, Testgelände der australischen Luftwaffe. Unterbringung in der größten Kaserne der Luftwaffe war von den Behörden organisiert worden, ebenso wie ein kleines Zweier-Team zur wissenschaftlichen Unterstützung der Japaner. Mike, als Geologe auf Geochemie spezialisiert und Lisa, einer Molekularbiologin, mit Hang zur Astrobiologie. Sie stand vor dem Laborcontainer im Schatten und zog ein letztes Mal an ihrer Zigarette. Die Kaserne lag im Nichts und war nur durch einen verrosteten Stacheldrahtzaun von neugierigen Besuchern abgeschirmt. In dem es offensichtlich Löcher gab, dachte Lisa, als sie die Promenadenmischung aus Dingo, Rottweiler, Terrier und Labrador in ihre Richtung kommen sah. Sie fischte einen Streifen Dörrfleisch aus ihren Snack-Vorräten, ging in die Hocke und rief: „Komm, na komm. Ich hab was für dich“. Das erschöpft und traurig dreinblickende Tier brauchte eine Minute, um den Geruch wahrzunehmen und die Scheu vor der fremden Person zu überwinden. Kam dann aber nahe heran, schnappte den Streifen aus Lisa Hand und ließ sich von ihr über den verstauben Rücken streichen. Dann ging Lisa zurück in den Laborcontainer. Potato mochte das Trockenfleisch nicht besonders, aber er war zu langsam geworden, um Eidechsen und Wühlmäuse zu fangen.

— Die Sonde
Bei Missionen zum Mars, zur Venus, zu entfernten Monden im Sonnensystem und zu Asteroiden, war es üblich, die ausgesandten Sonden, direkt vor dem Start von der Erde, gründlich zu sterilisieren. Man benutzte UV-Strahlung und aggressive Chemikalien. Aber kein Objekt das die irdische Gravitationsfalle verließ, war wirklich vollkommen steril. Es gab einfach zu viele Mikroben in der Biosphäre. Am Boden und in der Luft. Bacillus subtilis war eines davon. In jedem Mikrogramm Gartenerde fand man es in Massen. Auf nackten menschlichen Fußsohlen fühlte es sich wohl, und im menschlichen Darm versteckte es sich, als nützlicher Verdauungshelfer. Sogar auf die Internationale Raumstation ISS war es gelangt. Durch die Astronauten. Beim Start der Hayabusa 2 Sonde hatte es in schwer zugänglichen Ritzen das Verlassen der Erdatmosphäre überstanden und dann kälte- und strahlungsresistente Sporen gebildet, die die fünfjährige Reise zum Asteroiden Ryugu im Kälteschlaf überdauerten. 4,5 Milliarden Jahre war das geschätzte Alter des Asteroiden. Damit war er so alt wie das Sonnensystem. Älter als die Erde selbst und älter, als alles Leben auf dem blauen Planeten. Die selbstreplizierenden Moleküle in Ryugus Innerem, ursprünglich geschützt durch eine Hülle aus toten Mineralien, jetzt von Hayabusa 2 durchlöchert, waren ebenfalls älter, als alles Leben das sich je auf der Erde entwickelt hatte. Ein großer Teil dieser Moleküle gelangte durch den Saugrüssel der Sonde in die Kammern für Asteroidenmaterial, und wurde dort steril versiegelt. Ein anderer Teil entkam der Saugvorrichtung, haftete sich als Partikelwolke an der Unterseite der Wiedereintrittskapsel fest, wo er beim Rückflug durch die Erdatmosphäre verglühen würde. Ein dritter, nicht unbedeutender Teil, setzte sich in Ritzen auf der Oberseite der Kapsel ab. Die bereits mit B. subtilis Sporen bewachsen waren. Die doppelte Lipid-Membran von B. subtilis empfing die Moleküle wie einen lange verschollen geglaubten Verwandten am Weihnachtsabend und transportierte sie sofort ins Zellinnere. Dort fanden die Moleküle alles vor, was sie brauchten, um den Rückflug zur Erde zu überstehen. Und mehr.